- admin
- 10. Januar 2009
- Neuigkeiten
- Leave a comment
Wie Waldorfkritiker Steiners Hang zu „Ohrfeigen” erfinden. Zeitschrift „Erziehungskunst” dokumentiert die Geschichte einer Fälschung.
Mit etwas seltsamen Zitaten ihres Gründers konfrontiert zu werden, ist für Anthroposophen keine neue Erfahrung. Der 1925 gestorbene Rudolf Steiner hinterließ neben zahlreichen praktischen Projekten wie den Waldorfschulen auch so manches unverständliche, befremdliche und im historischen Abstand überholt wirkende Wort. Mitunter hält man Steiner aber auch Äußerungen der besonderen Art vor: solche, die er gar nicht gesagt hat.
Während einer Auseinandersetzung mit dem Fernsehsender rbb, bei der es um eine sozialtherapeutische Einrichtung in Brandenburg ging, wurde kürzlich dem Waldorfschul-Vertreter Dr. Detlef Hardorp die Behauptung vorgehalten, Steiner habe „Ohrfeigen für grundsätzlich legitim” gehalten. Ein rechtsanwaltliches Schreiben des Senders wollte dies mit einem Zitat belegt wissen, das in einem im Internet hinterlegten Vortragsmanuskript von Claudia Goldner zu finden ist: „Eine körperliche Strafe, von einer respektierten erwachsenen Person erteilt, kann einen günstigen, aufschreckenden Effekt haben”, per Fußnote dem Gründer der Waldorfpädagogik zugeschrieben – eine pädagogisch zweifellos höchst prekäre Aussage – wenn sie denn stimmte.
Dass sie stimmen könnte, wäre natürlich nicht von vorn herein auszuschließen, hat doch selbst ein Dietrich Bonhoeffer in seiner während der Tegeler Haftzeit entstandenen „Ethik” noch Gründe für das Recht auf körperliche Züchtigung festgehalten. Stutzig machte Hardorp, der die Waldorfschulen in Berlin und Brandenburg vertritt, allerdings die in dem Vortrag von Goldner angegebene Buchquelle des Zitats: der Autorin zufolge sollte es in Steiners Werk mit dem Titel „Die Erziehung der Kinder” enthalten sein. Ein solches Buch gibt es jedoch nicht. Hatte die Autorin den Titel vielleicht verwechselt und könnte das Zitat sich anderswo bei Steiner finden? Dies zu klären ist heute archivtechnisch sehr einfach, denn die kompletten rund 350 Bände mit seinen Schriften und Vorträgen liegen heute für jedermann zugänglich auch in digitaler Form mit Volltext-Suchfunktion vor. Das Resultat der Recherche, die Hardorp jetzt in einem Beitrag für das waldorfpädagogische Fachblatt „Erziehungskunst” ausführlich dokumentiert hat: die Suche nach den entsprechenden Begriffen ergibt keinen einzigen Treffer. Steiner hat von einem „aufschreckenden Effekt” „körperlicher Strafen” nachweislich nie gesprochen.
Dessen ungeachtet hielt das angebliche Zitat Steiners inzwischen Eingang in weitere waldorf-kritische Publikationen und Foren. So wird es beispielsweise von Colin Goldner, Aktivist im „Bund der Konfessionslosen und Atheisten”, in einem Aufsatz als „Beleg” für die Gewaltneigung der Waldorfpädagogik angeführt. Schließlich fand Hardorp bei seinen Nachforschungen einen Text, der auf die Lösung des Zitatenrätsels führt: ein ominöser „Verein zur Förderung des marxistischen Pressewesens” instrumentalisiert auf der Website „Gegenstandpunkt” ebenfalls das vermeintliche Zitat für Anti-Waldorf-Polemik. Hier nun aber wird ein ganz anderes Buch als Quelle genannt: „Erziehung zur Freiheit” heißt es, geschrieben von dem schwedischen Waldorfpädagoge Franz Carlgren. Schaut man dort nach, findet man tatsächlich den Satz – allerdings mit einem entscheidenden, weil sinnverändernden Unterschied. Wörtlich und im Zusammenhang heißt es bei Carlgren: „Es gibt Anzeichen dafür, dass viele Kinder in der vorindustriellen Gesellschaft robuster und gleichzeitig träumerischer waren, als es heute gewöhnlich der Fall ist. Eine körperliche Strafe, von einer respektierten erwachsenen Person erteilt, kann mitunter einen günstigen, aufschreckenden Effekt gehabt haben. Aber in unserem problematischeren Dasein kann ein Kind, das geschlagen wird, nur allzu leicht den Eindruck gewinnen, dass derjenige, der prügelt, nur aus Antipathie handelt.” Die Manipulation verlief also gleich doppelt: erst unterschlägt das marxistische Pressewesen das Wort „gehabt”, durch das der Satz sich klar als ein Räsonnieren über Vergangenes ausweist, dann den Nachsatz, der körperliche Strafe für unsere Gegenwart ablehnt. Zusätzlich geben die Verfasser eine falsche Seitenzahl an, um den Betrug zu verschleiern. Die genannten eifrigen Zweitverwerter haben dann das manipulierte Zitat kurzerhand Steiner selbst zugeschrieben. So lässt sich dann schließlich vollmundig behaupten, er habe „Ohrfeigen” für „legitim” gehalten.
Steiner hat sich im Übrigen – auch das dokumentiert Hardorp – tatsächlich einmal zum Thema Ohrfeigen geäußert. In einer Konferenz mit Lehrern (GA 300b, Seite S. 271 f.) sagte er: „Es ist so, dass man durch das Prügeln die Disziplin nicht hebt, sondern sie verschlechtert… Oder ist etwas daran, dass in der Waldorfschule Ohrfeigen vorkommen? Es müsste das Ideal sein, auszukommen ohne das. Es wird auch bessere Disziplin sein, wenn man auskommt ohne das.” Das war 1923. In Deutschland wurde die Prügelstrafe in Schulen erst 1973 offiziell abgeschafft.
© Info3 Medienstelle Anthroposophie 2009 / 600 Zeichen / Abdruck honorarfrei / Beleg erwünscht
Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers.