- admin
- 25. März 2021
- Neuigkeiten
Liebe Schulgemeinschaft,
als Schule sind wir sehr stark eingebunden in die Maßnahmen, die unsere Gesellschaft in der nun schon ein Jahr andauernden Krisensituation ergreift. Teilweise im zwei-Wochen-Takt müssen wir uns mit neuen Vorgaben zurechtfinden. Darüber hinaus sind wir ständig bemüht, wach zu sein für unsere Kinder und den Weg zu finden, der ihren Bedürfnissen zumindest stückweise gerecht wird – wie einem dabei immer wieder das Herz weh tut, darf einmal ehrlich gesagt werden! – Was in den Klassen auch in diesen vergangenen vier Wochen gearbeitet wurde, was an Gesprächen zwischen Eltern, Schüler*innen und Lehrer*innen bewegt wurde, lässt dieses Bemühen erkennen, auch wenn wir es in mancher Hinsicht nicht vollendet haben.
Eine Aktion unter einzelnen Schülerinnen der 13. Klasse hat zur Übertragung eines Essays aus dem Englischen geführt, den der amerikanische Gesellschaftsaktivist Charles Eisenstein im Juli 2020 veröffentlicht hat. Ich möchte Ihnen diesen Essay mitgeben und wünschen allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eine gute, bewegte und erneuernde Osterzeit!
Andreas Stollwerck
Betäubt
Charles Eisenstein, Juli 2020 (https://charleseisenstein.org/essays/numb/)
Der Titel dieses Essays stammt aus einem herzzerreißenden dreiminütigen Video*, gedreht von einem jungen Mädchen, Liv McNeil. Einfach und doch präzise gefertigt, dokumentiert es das Verkümmern eines jugendlichen Lebens in Zeiten des Covid Lockdowns. Die Kamera verweilt über Fotos, auf denen sie Spaß hat mit ihren Freunden. Dann auf ihrem Computerbildschirm, ihren Aufgaben, scrollen, scrollen… Ihr Leben findet jetzt eingepfercht in einer Box statt. Und dann eine Abfolge von Standbildern von ihr selbst, auf ihrem Bett sitzend, Tag ein Tag aus, bei dem Versuch optimistisch zu bleiben, während ihre Geduld langsam einer Betäubung Platz macht.
Ich habe das Video mit einer engen Freundin geteilt, die eine ähnliche Geschichte mit ihrer eigenen jugendlichen Tochter erzählt hatte, die ich hier Sarah nennen werde. Ein lebhaftes, munteres, kontaktfreudiges Mädchen, das oft draußen war und nur selten auf Bildschirme schaute, „verkümmerte wie eine Blume die man an den Wurzeln abgeschnitten hat“ und wurde traurig und antriebslos. Glücklicherweise fand meine Freundin, die relativ wohlhabend ist, für Sarah eine Möglichkeit mit Pferden zu arbeiten und sie konnte wieder ein gesundes Verhältnis zum Leben finden.
Ich freue mich für Sarah, aber was ist mit all den weniger Glücklichen, die endlose Stunden in ihren Schlafzimmern verbringen, bewegungslos, auf einen Bildschirm starrend, in dem sie sozialen Kontakt haben, aber nur zweidimensional, die nach der Gesellschaft ihrer Freunde hungern? Keine Übernachtungen mehr, kein Chor mehr, kein Theater mehr, kein Sport mehr, keine Partys mehr, keine Ausflüge mehr, kein Tanzen mehr, kein Sommercamp mehr, keine Bandproben mehr…
Bevor ich fortfahre, lassen Sie mich einen Moment innehalten, um das auszusprechen, was meine Leser denken müssen: „Hören sie auf mit ihren überprivilegierten Beschwerden. Was ist das Opfer von Spiel und Sozialität im Vergleich zur Rettung von Leben?
Ich stimme zu, dass der Schutz der Gesundheit der Menschen wichtig ist, aber sein Wert muss neben anderen Werten stehen. Um zu sehen, dass es sich um einen relativen und keinen absoluten Wert handelt, betrachten Sie ein hypothetisches Extrembeispiel, in welchem wir ein Leben retten könnten, indem wir die gesamte Gesellschaft für ein Jahr einsperren. Ich denke nicht, dass viele Leute dem zustimmen würden. Für das andere Extrembeispiel stellen Sie sich vor, wir wären mit einer Pest mit einer Sterblichkeitsrate von 90% konfrontiert. In diesem Fall würden sich nur wenige den strengen Sperrmaßnahmen widersetzen. Covid-19 liegt offensichtlich irgendwo dazwischen.
In der modernen Gesellschaft ist die Rettung von Leben ein vorrangiger Wert. (Eigentlich ist der Begriff eine Fehlbezeichnung – es gibt keine Möglichkeit, ein Leben zu retten, da wir sterblich sind und alle eines Tages sterben werden. Lassen Sie uns daher einen genaueren Ausdruck verwenden: Tode hinauszögern.) Viel öffentlicher Diskurs, von der Gesundheitsversorgung bis zur Außenpolitik, dreht sich um Sicherheit und Risiko. Die Covid-19-Politik konzentriert sich auch auf die Frage, wie möglichst viele Todesfälle verhindert und die Sicherheit der Menschen gewährleistet werden können. Werte wie die unermesslichen Gewinne des kindlichen Spiels, des gemeinsamen Singens oder Tanzens, der körperlichen Berührung und der menschlichen Zusammengehörigkeit sind nicht Teil der Berechnungen. Warum?
Ein Grund dafür ist einfach, dass diese nicht messbaren Dinge sich der Berechnung entziehen und daher schlecht in einen politischen Entscheidungsprozess passen, der stolz darauf ist, wissenschaftlich zu sein, dh quantitativ und auf Zahlen basierend. Aber ich denke, es gibt einen tieferen Grund, der verwurzelt ist in den Vorstellungen unserer modernen Zivilisation zu den Fragen: Wer sind wir ? Warum sind wir hier? Was ist der Sinn des Lebens? Was bedeutet es überhaupt, am Leben zu sein?
Ich habe in einem früheren Aufsatz über den Sicherheitswahn, die Verleugnung des Todes, die Verherrlichung der Jugend und das umfassende Kontrollprogramm geschrieben, das unsere Gesellschaft erfasst hat. Hier will ich eine einfache Wahrheit sagen: Leben bedeutet mehr als nur am Leben zu bleiben. Wir sind hier, um das Leben zu leben, nicht nur um das Leben zu überleben. Das wäre offensichtlich, wenn die Gewissheit des Todes in unserer Psychologie Raum hätte. Aber in der modernen Gesellschaft ist dies leider nicht der Fall. Wir verdrängen den Tod. Wir leben in einer vorgetäuschten Beständigkeit. Auf der Suche nach dem Unmöglichen – der unendlichen Verschiebung des Todes – gelingt es uns nicht, das Leben vollständig zu leben.
Wir sind nicht die diskreten, getrennten Individuen, als die uns die Moderne darstellt. Wir sind miteinander verbunden. Unser Dasein ist Beziehung. Vollständig leben bedeutet, vollständig aufeinander bezogen sein. Covid-19 ist ein weiterer Schitt in einem langen Trend hin zu einem Leben, getrennt von der Gemeinschaft, von der Natur und dem Lebensumfeld. Obwohl wir als getrenntes Selbst überleben können, werden wir mit jedem Schritt der Trennung immer weniger lebendig. Jugendliche und Alte Menschen reagieren besonders empfindlich auf dieses Getrennt-Sein. Wir sehen wie sie immer weniger werden, wie Früchte in einer Dürre. Ein befreundeter Psychiater schrieb mir kürzlich: “Bei älteren Menschen war der Fallout wirklich katastrophal. Die Quarantäne in einem Raum und die Isolierung von der Familie verursachen ein massives Maß an unsichtbarem Leiden, an Niedergang und an Todesfällen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele gequälte Familienmitglieder mir gesagt haben , dass es nicht Covid ist, der ihren geliebten Menschen tötet – sondern die Besuchsverbote.
Ich argumentiere nicht dafür, dass die Sozialität zu einem neuen Absolutismus wird, der die Verschiebung des Todes als Handlungsleitlinie der Politikersetzt. Ich möchte nur, dass sie im öffentlichen Diskurs einen echten Stellenwert bekommt. Ich will sie als heiligen Wert verankert wissen. Ein volles soziales Leben ist keine privilegierte Ergänzung neben der Erfüllung messbarer physischer Bedürfnisse, es ist ein grundlegendes Menschenrecht und eine grundlegende menschliche Notwendigkeit. Dies ist auch nicht nur ein Problem der “wohlhabenden Weißen”. Wenn etwas die Armen mehr trifft, als die gut situierten, so ist es die Isolation. Denn die Armen haben weniger Zugang zu dem technologischen Ersatz für persönliche Begegnung – wie blass er auch immer sein mag. Außerdem, welches Recht haben wir zu sagen, dass der Grad des Leidens durch Einsamkeit geringer ist, als durch Hunger oder Krankheit? Wenn dieses Leiden Menschen dazu bringt, mit dem Essen aufzuhören, sich Tag für Tag lustlos hängenzulassen, oder sogar Selbstmord zu versuchen, ist es in der Tat ein schwerwiegendes Leiden.
Die große Ironie ist, dass eine Vorgehensweise, die den Tod minimieren will, dies letztlich gar nicht erreichen wird. Leben verkümmert, wenn es isoliert wird. Dies zeigt sich auf biologischer Ebene, weil wir mit der Welt der Mikroben und – ja! – auch der Viren notwendigerweise in einem ständigen Austausch stehen müssen, um unser körperliches Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Auch auf sozialer Ebene trifft dies zu: eine prominente Meta-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass soziale Isolation, Einsamkeit und die Tatsache, allein zu leben, im Durchschnitt eine um 29%, bzw. 26%, bzw. 32% erhöhte Sterblichkeitsrate verursacht. Das ist, grob gesagt, dasselbe Sterblichkeitsrisiko wie bei täglichen 15 Zigarretten oder regelmäßigem exzessiven Alkoholgenuss. Aber ich habe noch keine Anzeichen dafür gefunden, dass unsere medizinischen oder politischen Autoritäten dies in ihre epidemologisch begründeten politischen Entscheidungen einbeziehen.
Aber das ist es nicht, wogegen ich hier protstiere. Selbst wenn dieses ironische Versagen nicht wahr wäre, selbst wenn wir den Tod eindeutig auf später verschieben könnten, indem wir jeden Menschen in einer Seifenblase isolieren, würde dies sich dennoch nicht lohnen. Mir leuchtet das ein, wenn ich auf meine eigenen Kinder schaue, wie sie ihr Bestes geben, um in einer sozial verarmten Landschaft zurechtzukommen. Wenn meine älteren Söhne von Einsamkeit, Apathie und Depression sprechen, wenn meine 15-Jährige ihre Freunde mittels Bildschirm, oder selten durch Masken und 6 Fuß Abstand getrennt trifft, wenn meine Jüngste ständig um ein “Spiel-Date” bettelt. – Was tun wir unseren Kindern an? Ist keiner bereit, aufzustehen, um für den Wert einer Fangen-Spiels zu kämpfen? Oder für den Wert einer Horde Kinder, die miteinander rangeln und raufen? Ich kann den Wert solcher Dinge nicht beziffern, um ihn mit einer Zahl X von hinausgeschobenen Toden zu vergleichen. Ich weiß nur, dass sie weit wichtiger sind, als unsere Gesellschaft sie achtet.
Mancher von uns wird sagen: das geht vorüber, das Leben wird wieder normal, sobald wir den Impfstoff haben. – Nun, selbst gewichtige Befürworter der Impfkampagne, wie z.B. Bill Gates, sagen ganz klar, dass diese Impfung nur einen kurzfristigen Schutz geben wird. Wie wir wissen, kann es neue Mutationen, neue Grippe-Epidemien, oder anderes Elend geben. Solange wir das Hinauszögern des Todes als unsere höchste Priorität verfolgen, wird es immer Gründe geben, die Kinder eingesperrt zu halten. Wir tragen heute Verantwortung für das, was wir als normal und akzeptabel bezeichnen.
Weil die meisten Menschen den Shutdown nicht auf einem Pferdehof verleben können, trifft uns das Grundproblem fast alle: das Grundproblem der Verbundenheit. Die Verlagerung der Kindheit in den Bildschirm und in das Indoor-Leben hat nicht mit Covid begonnen. Auch der Anstieg von kindlichen Depressionen, Angstzusänden und anderen Störungen ist nicht neu. Insbesondere in wenig bemittelten oder problembeladenen Familien gab es schon immer einen hohen Grad an Isolation, den die Kinder und wir alle jetzt massiv durchleben. Jetzt haben wir einen Weckruf, um diesen Trend umzukehren – sowohl in unserer Eltern-Position als auch in unserer öffentlichen Politik. Spiel, Draußensein, Verbundenheit mit dem lokalen Umfeld, Interaktion mit der Natur und soziale Begegnung müssen ihren Stellenwert wiederbekommen.
Viele Menschen sind an Covid 19 gestorben oder leiden an den Folgen der Erkrankung. Ich wende mich ihnen und ihren Familien in aufrichtigem Mitleid zu. Und ich möchte auch den jungen Menschen gegenüber mein Mitleid aussprechen für die verlorenen Monate an Kinderspiel, Freundschaft und Begegnung. Es war nicht unsere Absicht, dass es so kommt, und es sollte auch nicht so lang gehen. Dies sind keine Lebensbedingungen für Euer Leben und Streben. Wenn ihr euch eingesperrt, luslos oder deprimiert fühlt, ist das nicht euer Fehler. Ich bin mit meinem Herzen bei Euch. Aber unsere Mitleidsbekundungen sind nicht genug. Wir Erwachsene haben die Pflicht, das Leiden ernst zu nehmen, das Liv McNeil für uns mit ihrem Video sichtbar macht und in das öffentliche Gespräch trägt. Wir haben die Pflicht, etwas in dieser Sache zu tun! Die Elternaufgabe ist größer, als nur die Kinder in Sicherheit zu halten.
* https://www.youtube.com/watch?v=iSkbd6hRkXo